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Thomas Horstmann -                                         

Zur Rekonstruktion und medialen Vermittlung von Flucht und Vertreibung im kollektiven Gedächtnis der SBZ/DDR

 

Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.

Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.

 

Christa Wolf

 

Die Flucht und Zwangsvertreibung von Deutschen aus den Ostgebieten betraf nach 1945 14 Millionen Menschen. Über zwei Millionen Menschen sind dabei ums Leben gekommen.[1] Bei der hier gestellten Frage nach dem `Kollektiven Gedächtnis` von Flucht und Vertreibung in der SBZ/DDR geht es um eine erste Annäherung an den Umgang mit den Folgen einer Katastrophe, der selbstverursachten Katastrophe, die 1933 begann und 1945 erst von außen beendet wurde. Die deutschen Heimatvertriebenen hatten in besonderer Weise unter den Auswirkungen des zweiten Weltkrieges zu leiden. Sie hatten auf der Flucht schlimmstes persönliches Leid erlebt, viele Frauen waren vergewaltigt und mißhandelt worden, und die Vertriebenen hatten im Regelfall ihr gesamtes materielles Eigentum verloren. Die "Stuttgarter Erklärung" der evangelischen Kirchen von 1945 legte zwar nahe, die Vertreibung der Ostdeutschen als eine `gerechte Strafe` für Auschwitz zu interpretieren. Reinhart Koselleck stellte die Unmöglichkeit dieses Gedankenganges heraus: Beides kann zwar auf einen gemeinsamen Grund zurückgeführt werden, den von Deutschland entfesselten Krieg, „ohne daß das eine mit dem anderen kausal verbunden werden muß. Aber das Ereignis selbst - die `Vertilgung` von Millionen Juden und anderen Völkergruppen läßt sich durch keine Wissenschaft von der Geschichte, weder moralisch noch rational angemessen deuten“[2].

 

(Kollektives Gedächtnis)

In der westlichen Debatte um Gedächtnis wurde der ursprünglich auf Individuen bezogene Begriff um die Dimension des kollektiven Gedächtnisses auf Gruppen und Gesellschaften erweitert. Als bahnbrechend können die Forschungen des französischen Soziologen Maurice Halbwachs[3] in den zwanziger Jahre angesehen werden. Seine Überlegungen wurden erst spät, in diesem Jahrzehnt vom Ägyptologen und Kulturwissenschaftler Jan Assmann wieder aufgegriffen und zur Konzeption des `Kulturellen Gedächtnisses` weiterentwickelt, die rasch zu einem paradigmatischen Forschungsansatz wurde.[4] Das `Kulturelle Gedächtnis` kann durch fünf Charakteristika bestimmt werden:

 

1.   Raum- und Zeitbezug, der sich insbesondere in Gedenktagen und Erinnerungsorten äußert.

2.   Bezug auf Individualerfahrung: Die Träger sind einzelne Menschen.

3.   Gruppenbezug: Die Erinnerung entsteht durch Interaktion und Kommunikation mit anderen und wird zu einer Identität mit spezifischen, teilweise widersprüchlichen Selbst- und Vergangenheitsbildern.

4.   Rekonstruktion und mediale Vermittlung: Die Gegenwart kann nicht als solche im Gedächtnis bewahrt werden, sondern ist auf den Rückgriff auf bewußte Rekonstruktion angewiesen.

5.   Durch eine Offenheit des Diskurses: Jederzeit können neue Fragen und Perspektiven aufgeworfen werden.

 

Für die Analyse eines diktatorischen System wie der DDR ist zunächst danach zu fragen, ob und in welchem Maße von Öffentlichkeiten gesprochen werden kann. Gab es Teilbereiche innerhalb der öffentlichen Kommunikationssphäre, in denen Regeln galten, die von gängigen Sprachregelungen abwichen? Für die DDR spricht vieles für den Bereich der Literatur und Literaturkritik. Die Frage, in welchem Maße Literatur als Ersatzöffentlichkeit fungierte und dabei Anstöße für andere Bereiche aufnahm, ist aber noch nicht beantwortet und kann hier nicht vertieft werden.[5]

Im Rahmen dieser kurzen Skizze wird nur die Rekonstruktion und Vermittlung des `Kollektiven Gedächtnisses` der Vertreibung behandelt. Dazu wurden sechs Kategorien gebildet: Zunächst geht es um die öffentlich-kommunikative Vermittlung und dabei im Falle der SBZ/DDR um die politische Einschränkung des Meinungsaustausches über das Vertreibungsgeschehen (1), der sich nicht wie in der Bundesrepublik in Zeitungen, Leserbriefen, Reden, durch Interessenvertretungen und in der Politik frei äußern konnte. Anschließend wird die dokumentarische (2) und die wissenschaftlich-analytische Rekonstruktion des Vertreibungsvorgangs in der Geschichtsschreibung (3) behandelt. Daran schließt sich Literatur (4)[6] und Film (5) an. Auf die architektonische Rekonstruktion durch Denkmale und Museen muß schließlich nicht näher eingegangen werden. Denkmale stellen den Versuch von Kollektiven dar, einen gemeinsamen Sinn zu finden. In der DDR konnte es daher kein Denkmal zum Vertreibungsgeschehen geben. Gleiches galt für Museen als Ort der Vergangenheitsaufbewahrung.

 

1. Zur `Tabuisierung` der Vertreibung in der SBZ/DDR

Will man die öffentliche-kommunikative Funktion herausarbeiten, müssen zunächst die Bedingungen öffentlichen Verhandelns in der DDR näher betrachtet werden. In der Bundesrepublik entstand unter den Bedingungen von Demokratie und pluralistischer Öffentlichkeit seit 1948 vieles, das in der sich rasch ausweitenden Parteiherrschaft in der DDR fehlte, nämlich eigene Verbände und zeitweilig sogar Parteien der Vertriebenen, eine vielschichtige Presselandschaft. Ebenso bestanden freie Möglichkeiten der kulturellen Betätigung und schließlich sogar eigene Verwaltungsorgane für die Vertriebenen. In der SBZ/DDR wurde hingegen das Vertreibungsgeschehen insgesamt politisch tabuisiert, was entscheidenden Einfluß auf die Ausprägungen des kollektiven Gedächtnis hatte.

Die Tabuisierung der Vertreibungsgeschehnisse vollzog sich dabei zwei Etappen. Bis mindestens 1948, ja eigentlich bis 1952/53, gab es keine vollständige Tabuisierung, sondern eine widerspruchsvolle Politik der SED, welche die Vertriebenen zwar einerseits mental umerziehen wollte und andererseits als Gruppe konkret sozialpolitisch förderte. Die Vertriebenenpolitik der SED war dabei grundsätzlich auf die sogenannte `Basisintegration` ausgelegt.[7] Arbeit, Wohnen und Versorgung sollten vorrangig gewährleistet werden, während die weitreichenden mentalen und ideellen Implikationen des Heimatverlusts politisch heruntergespielt wurden. Die für die Vertriebenen zuständige Zentralverwaltung verfügte bezeichnenderweise in ihrer ersten Verfügung überhaupt, das fortan „in unserem Sprachgebrauch nur die Rede von Umsiedler“ sein dürfe[8]. Diese Diktion verharmloste Flucht und Vertreibung gezielt. Ab 1948/49 wuchs dann der politische Druck und wurde immer deutlicher durch die Anordnung völliger Sprachlosigkeit abgelöst. Selbst der Umsiedler-Begriff sollte nun vollständig umgangen werden. Die `Sehnsucht` der Flüchtlinge vermochten viele Funktionäre kaum zu verstehen oder durften sie unter der herrschenden Sprachregelung der engen `deutsch-sowjetischen Freundschaft` offiziell nicht tolerieren. Statt dessen sollten die Vertriebenen rasch und ohne Einschränkung in die sozial höchst mobile Nachkriegsgesellschaft eingegliedert werden. Anpassung lautete das einzige Angebot der SED an die Vertriebenen. Hinsichtlich der finanziellen Eingliederungshilfen für die Vertriebenen kann sogar ein temporärer Vorsprung der SBZ vor den westlichen Zonen festgestellt werden: Die SED legte mehrere kostenintensive Sonderprogramme für die Vertriebenen auf, und erst der Beginn der Lastenausgleichszahlungen ab dem September 1952 in der Bundesrepublik sollte das Verhältnis umkehren. Gerade der Lastenausgleich wurde später zum Mythos. Weit über seine eigene tatsächliche materielle Bedeutung hinaus wurde er zu einem eigenen `Gedächtnisort` in der bundesdeutschen Erfolgsgeschichte des Wiederaufbaus, der bis heute nachwirkt und den es zu erforschen gälte. [9]

Die Tabuisierung war jedoch herrschaftspolitisch folgerichtig. Die SBZ/DDR befand sich anders als Westdeutschland nicht nur geographisch in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Opfer- und Vertreiberstaaten, sondern war vor allen wirtschaftlich auf sie angewiesen. Ebenso stand man unter direkter Beobachtung der für die Vertreibung hauptverantwortlich gemachten sowjetischen Besatzungsmacht und besaß dabei prozentual den höchsten Vertriebenenanteil in Deutschland. Angesichts all dessen war das Problem der Vertreibung und der deutsche Ostgebiete systemgefährdend.[10] Schon 1949 beschloß daher der oberste Führungszirkel, das kleine Sekretariat der SED, daß die Einbürgerung der Umsiedler in der sowjetischen Besatzungszone durchgeführt sei. In Ostberlin mußte zur gleichen Zeit damit begonnen werden, Bahnhofs- und Straßennamen, die an den deutschen Osten erinnerten, zu tilgen. Um die Erinnerung verblassen zu lassen, hatte beispielsweise der Rundfunk schon seit 1947 keinen ostdeutschen Lieder mehr senden dürfen. Auch jedes weitere Bestehen auf ein Heimatrecht wurde nun verstärkt polizeilich verfolgt und gerichtlich geahndet. So galt jeder Versuch zur Bildung von Umsiedlerorganisationen oder ein landsmannschaftlicher Zusammenschluß als staatsfeindliche Verschwörung. Aus Furcht vor Repressalien wagten es daher immer weniger Vertriebene offen zu protestieren und zogen es vor, in die Bundesrepublik weiter zu fliehen.[11]

Bei der übergroßen Mehrheit der Vertriebenen in der frühen DDR stieß insbesondere die Festschreibung der Oder-Neiße-Linie im Jahr 1950 auf enormen Widerspruch, wie die wachsende Zahl von Eingaben und Beschwerden bei den Behörden bezeugt. Auffällig sind in den überlieferten Schreiben vor allem die vorangestellten Ergebenheitsbekundigungen. So bekannten sich in der sächsischen Stadt Zittau Behelfsheimbewohner zunächst zur `Oder-Neiße-Friedensgrenze`, um dann die Bitte vorzutragen, nach fünf Jahren Notbehelf endlich mit einer Wohnung bedacht zu werden.[12]

Das Verlangen der SED nach einer vollständigen Tabuisierung war jedoch in der Realität nicht vollständig umzusetzen. Die Durchsetzung der Diktatur der SED wies Grenzen auf.[13] So wurde selbst im Herrschaftsapparat aus pragmatischen Gründe noch längere Zeit intern der Begriff `Umsiedler` benutzt, bezeichnenderweise mit dem Unwort `ehemalige Umsiedler`.  Entscheidend aber war, daß eine Verdrängung schon gar nicht in der Gesellschaft selbst gelang. In deren Binnenkommunikation und in persönlichen Beziehungen lebte die Gruppenidentität der Vertriebenen noch lange fort. Zudem war in den fünfziger Jahren die private Kommunikation unter den Vertriebenen nur begrenzt kontrollierbar, da der Apparat des Ministeriums für Staatssicherheit erst im Aufbau begriffen war. Später boten die Kirchen gewisse institutionelle Freiräume. Die Gesellschaft war auch im Staatssozialismus nicht einfach ruhig ruhigzustellen.[14] Die Leugnung eines Vertriebenenproblems in der SBZ/DDR belegt letztlich vor allem intensive Gleichschaltungsversuche durch die Partei, nicht aber die tatsächliche Gleichschaltung. Das erzwungene öffentliche Schweigen verbannte die Debatten an den Familientisch, wo sie vermutlich umso leidenschaftlicher geführt wurde. Zu welch hysterischen Formen sich die Tabuisierung entwickeln konnte, belegt der Konflikt um den Namen der evangelisch-pommerschen Landeskirche. Auf Druck der SED sollte `Pommern` aus der Kirchenbezeichnung verschwinden, worauf jahrzehntelange Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche folgten, ehe die Kirche resignierte und auf einer Sondersynode 1968 den neuen unverfängliche Kirchennamen `Landeskirche Greifswald` annahm.[15] Wie Berichte in Parteiakten belegen, meldeten Spitzel auch danach jede Verwendung der Bezeichnung Pommern an die Staatsmacht, selbst die Angabe ostpommerscher Geburtsorte bei Beerdigungen.[16]

Daß sich die Vertriebenen in der DDR insgesamt als Opfer zweier Diktaturen fühlten, belegen Interviews der achtziger Jahre, die bundesdeutsche Wissenschaftler mit Vertriebenen in der DDR führen konnten. Viele Befragte vergaßen aber stärker als in der Bundesrepublik nicht die Schrecknisse der deutschen Wehrmacht und der SS als Vorgeschichte der eigenen Leiden in ihre Lebensgeschichte aufzunehmen.[17] Spezielle Verbitterung war bei den Vertriebenen in der DDR dadurch entstanden, daß man keinen Lastenausgleich wie in der Bundesrepublik bekommen hatte. Folgerichtig bemühten sich seit der Wende viele um eine Anerkennung als `Vertriebene`: Allein in Mecklenburg-Vorpommern gingen 1994 206.000 Anträge ein. Jeder registrierte Vertriebene erhält dabei einmalig eine staatliche Zuwendung von 4000,-DM.[18] Nach fünfzig Jahren der Verdrängung bildeten sich jedoch auch Formen der Identifikation, die über rein finanzielle Interessen hinausgehen. So versammelten sich allein beim ersten Bessarabischen Kirchentag im Mai 1994 im Güstrower Dom über 500 Menschen.[19] Auch die seit 1990 rasch gegründeten Vertriebenenverbände boten Möglichkeiten der Kontaktaufnahme zwischen Betroffenen. Daneben gründeten sich einige private, örtliche Initiativen zur `Vergangenheitsbewältigung`.[20]

 


2. Dokumentationen

In den vierziger und fünfziger Jahre verhinderte die SED jeden Versuch einer Dokumentation der Flüchtlingssituation. Eine bereits geplante amtliche Dokumentation zur „Umsiedler-Integrationspolitik“, welche die Spitze der Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler verwirklichen wollte, wurde untersagt und die Mehrzahl der Experten für `Umsiedler-Fragen` einfach versetzt. So degradierte man den Chef der Umsiedler-Verwaltung, Artur Vogt, zum Berliner Schlachthofdirektor. Dennoch versuchte dieser noch mehrfach - bis Ende der fünfziger Jahre - die SED-Politik der Tabuisierung zu durchbrechen. Nun forderte er als SED-Mitglied die Erstellung einer Dokumentation, um sie für die Parteigeschichtsschreibung zu nutzen.[21] Auch diese Initiative verlief aber im Sande. Auch Versuche einer wissenschaftlichen Dokumentation wurden damals untersagt, wie die forschungswillige Berliner Humboldt-Universität bereits im Frühjahr 1950 erfahren mußte. Selbst eine parteikonforme Erinnerung war in der Vertriebenenfrage nicht mehr erwünscht. Aus den amtlichen Statistiken waren die `Umsiedler` schon seit 1949 getilgt worden und auch auf interne statistischen Erhebungen zu den Vertriebenen verzichtete die Partei.[22]

 

3. Wissenschaftliche Analyse - Historische Forschungen

In der DDR kam es erst seit Ende der 70er Jahre zu ersten Ansätze einer breiteren Flüchtlingsforschung.[23] Diese `Integrationsforschung` konnte sich wenigstens teilweise über ältere politische Vorgaben hinwegsetzen, nach denen sich der `Verschmelzungsprozeß` völlig reibungslos vollzogen hatte. Zu Zentren wurden die Pädagogische Hochschule in Magdeburg und später auch die Berliner Humboldt-Universität. Die Forschungen spiegeln einen bemerkenswerten Wandel wieder und belegen den wachsenden Wunsch des Staates nach historischer Selbstvergewisserung. Dennoch war die Forschungstätigkeit durch fehlendes qualifiziertes Personal weiter behindert. Ebenso erschwerte die grundsätzliche Ausrichtung der DDR-Historiographie auf die Politikgeschichte eine wirkliche lebensnahe Beschreibung der Vertriebenenintegration und Flüchtlingserfahrungen. Vor allem aber durften die Forschungsergebnisse nicht den politisch erwünschten Deutungen der sowjetischen Deutschland- und Besatzungspolitik widersprechen. Sie hätten sonst nicht ein Geschichtsbild gepaßt, „das alle Verbrechen und Greueltaten, die im zweiten Weltkrig begangen einseitig den Deutschen anlastete“[24]. Jede Annäherung an das Thema hatte folglich drei Grundsätze zu beachten: Das Potdamer Abkommen sei völkerrechtlich verbindlich. Die Umsiedlung der Deutschen stehe im Interesse einer dauerhaften Friedenssicherung. Schließlich sei die  Integration der Umsiedler in kürzester Zeit und `modellhaft` verlaufen.[25]

Nach 1990 änderte sich das Bild. Die Projekte in Magdeburg und an der Humboldt-Universität konnten nun ohne jede Zensur fortgesetzt[26] und eine Reihe von weiteren Forschungsprojekten initiiert werden. Ein vergleichendes Projekt zur Flüchtlingsintegration in der Bundesrepublik und der DDR an der Universität Mannheim wurde mittlerweile abgeschlossen.[27] Gerade begonnen wurde ein Projekt zur Aufnahme und Integration von Flüchtlingen in Sachsen von 1945 bis 1952, das an der Universität Leipzig durchgeführt wird.[28] Hinzu kommen zahlreiche Einzelforschungen,[29] die auch volkskundliche und alltagshistorische Fragestellungen behandeln. Die wenigsten Arbeiten sind aber bislang vergleichend angelegt.[30] Diese Tatsache kann insbesondere auf die deutschlandzentrierte Förderungspraxis des Bundesinnenministeriums, das die meisten Tagungen zur Vertreibungsproblematik mitfinanziert hat, zurückgeführt werden. Gerade in dieser Hinsicht stellt die an der Viadrina begonnene vergleichende Arbeit zum Gedächtnis der Vertreibung eine wichtige Ausnahme dar.

Schließlich beeinträchtigt auch die mangelnde institutionelle Ausstattung an den Universitäten eine wirklich innovative Vertriebenenforschung. Der bekannte Mittelalterhistoriker Hartmut Boockmann hatte schon 1987 vehement Lehrstühle für die Geschichte Ostpreußens, Westpreußens, Schlesiens und der baltischen Länder gefordert.[31] Eine solche Beschäftigung würde tatsächlich ein weiteres Feld der Integration eröffnen. So steckt die umfassende, moderne kulturwissenschaftliche Erforschung der Traditionen der Vertreibungsgebiete auch heute noch weitgehend in den Kinderschuhen. Bislang wurden jedoch immerhin Stiftungslehrstühle zur pommerschen Landesgeschichte in Greifswald und zur Germanistik Ostmitteleuropas in Leipzig eingerichtet.

 

4. Literatur

Flucht und Vertreibung war beileibe kein Thema der Massenliteratur, sondern blühte eher versteckt und im verborgenen. Als generelle Tendenz läßt sich feststellen, daß den Autorinnen und Autoren der Wunsch gemeinsam war, ihre Schilderungen mit den bekannten geschichtlichen Tatsachen abzustimmen, anstatt einfach nur zu berichten und das untypisch Persönliche zu allgemeiner Gültigkeit erheben zu wollen.[32]

Für die Anfangszeit sprechend, sind vor allem die seit 1949/50 auf politischen Druck veröffentlichten Laiengedichte. Titel wie  „Die alte Heimat ist in guten Händen“ sprechen für sich und sollten vor allem gegen die Sehnsucht der Flüchtlinge und die Erinnerung an die alte Heimat ankämpfen.[33] Ansonsten wurden in den gesamten fünfziger Jahre nur noch ganz wenige literarische Zeugnisse zum Thema publiziert. So schrieb 1952 Anna Seghers eine gerade fünfseitige Kurzgeschichte mit dem Titel `Die Umsiedlerin`,[34] auf die sich später mit Christa Wolf und Heiner Müller immerhin zwei einflußreiche DDR-AutorInnen beziehen sollten. Der Anfang von Seghers Geschichte ist charakteristisch: „Eine Frau namens Anna Nieth, die Ende des Krieges beim Einzug in Polen aus ihrer Provinz mit Schicksalsgefährten nach Westen gezogen und schließlich in dem kleinen Dorf Lossen hängengeblieben war“.[35] Die Autorin verwischt die tatsächliche Herkunft der Vertriebenen. Es kommt `zum Einzug in Polen`, wer aber dort wiederum einzog, bleibt im Dunkeln.

Benno Voelkners 1952 erschienener Danzig-Roman  `Die Tage werden heller` liest sich dann wie eine böse Parodie auf die tatsächlichen Geschehnisse.[36] Da winken während der Flucht glückliche Danziger einem Sowjetoffizier vom Transportzug glücklich zu. Die Aussiedlung scheint gelungen. Selbst der Untergang von Flüchtlingsschiffen wird von Voelkner begrüßt, da es ja nur die `braunen Bonzen` getroffen habe. In absurder Umkehrung der tatsächlichen Ereignisse erwartet der Held - ein junger Sozialdemokrat - in freudiger Erwartung die  Ankunft der Sowjets. Als sie Danzig erreichen, verlassen die Menschen daraufhin erlöst, befreit und geordnet die Luftschutzkeller. Der Autor gesteht zwar auch zu, daß auch einige Danziger von der Umsiedlung nicht gerade begeistert waren. Wer sich aber offen gegen eine Umsiedlung im Viehwaggon wendete, wird von Voelkner automatisch zum `Faschisten` gemacht. Am Schluß des Romans begleitet dann ein gütiger sowjetischer Offizier die begeisterten Danziger zum Vertreibungszug. Der Gewinn einer Freundschaft ersetzt letztlich gewissermaßen den Heimatverlust, lautet der widernatürliche Wertmaßstab im Roman.

In den sechziger Jahren wurde ebenso wenig zu Thema Vertreibung veröffentlicht wie in den fünfziger Jahren. Die Zeugnisse lassen sich an einer Hand abzählen. Hervorzuheben ist hier vor allem Heiner Müllers Drama `Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande` von 1964, das zwar sozialistisch, aber nicht systemkonform war. Schon die erste aufgeführte Fassung von 1961 bewirkte nachhaltige staatliche Repression.[37]

Für die siebziger Jahre fällt auf, daß die im Westen nun stark im Mittelpunkt stehende Literatur der Wiederbegegnung mit der Heimat auch in der DDR eine Entsprechung finden durfte: 1974 beschrieb Rolf Schneider die Begegnung einer siebzehnjährigen Ostberlinerin mit verschiedenen ostdeutschen Landschaften (Pommern, Westpreußen, Nieder- und Oberschlesien). Schneider konnte damit vermutlich den einzigen Roman in der DDR publizieren, der mit der Wiederbegegnungsliteratur Arno Surminskis verglichen werden kann.[38]

Als literarisch bedeutsamstes Zeugnis zur Vertreibungsthematik, das in der DDR publizietr wurde, kann Christa Wolfs Roman `Kindheitsmuster` bezeichnet werden.[39] Ort der Handlung ist Ost-Brandenburg. Die Hauptgestalt Nelly Jordan stammt aus Landsberg an der Warthe im brandenburgischen Neumark. Der Roman dreht sich um die prägenden Jugenderinnerungen der NS-Zeit und die Verformung einer jungen Psyche, wobei das `Muster` der Kindheit als rein intellektuelles Raster funktioniert. Den Roman schrieb Wolf, nachdem sie Ost-Brandenburg besucht hatte. Sie schildert die alte Heimat jedoch als Hort kleinbürgerlicher Engstirnigkeit, die ihren Höhepunkt in Nationalsozialismus erreichte. So kommen bei der Heldin selbst beim Besuch des Geburtsortes keine Gemütsbewegungen vor. Die Heimat erscheint `unheimatlich`.[40] `Kindheitsmuster` stellt vor allem deshalb einen bedeutender Vertreibungsroman dar, weil er einerseits die Vorgeschichte der Vertreibung schonungslos abhandelt und auch an einer Stelle offen von `Austreibung` und dem `Zusammenbruch` spricht.[41] Andererseits wird die Heimat an keiner Stelle harmonisch verklärt, sondern die Autorin will zeigen, daß die Heimat das Gegenteil eines `Arkadien` war.

In den achziger Jahren hatte dann das Vertreibungsthema in der DDR-Literatur stärkere Konjunktur. So konnte 1984 als Novum ein Erinnerungsbericht erschienen, der erstmals gelassen vom Heimatort Königsberg erzählte.[42] Herausragend war aber vor allem der Tabubruch der gebürtigen Schlesierin Ursula Höntsch-Arendt. In ihrem Roman `Wir Flüchtlingskinder` wurde der Fluchtvorgang erstmals offen im Titel angesprochen.[43] Der Roman stellt den einzigen Fall dar, der sich in ganzer Breite mit den Themenkreisen ´alte Heimat`, Kriegsende, Umsiedlung und Ankunft im der SBZ auseinandersetzt. Vor allem die Schrecknisse der Flucht werden in allen Details dargestellt. Erstmals war so in der DDR etwas zu lesen über die endlosen Trecks, erfrorene Säuglinge, halbverhungerte Alte, von Vergewaltigung, Mord und Selbstmord. Ebenso wurde offen auf das kollektive Massenschicksal der Vertreibung hingewiesen.[44] Erst die Auflage von 1991 konnte dann auch den `Dialog mit dem Leser` enthalten. In einem Anhang dankten der Autorin zahlreiche Leser, daß sie endlich offen über die verlorene Heimat und Vertreibung gesprochen hatte.[45]

 

5. Film

Üblicherweise wird der `Film` in den entsprechenden theoretischen Ansätzen zum Kulturellen oder Kollektiven Gedächtnis nicht als eigene Kategorie erwähnt. Dabei weist insbesondere der Kinofilm einige Besonderheiten auf. Insbesondere in seinen populären Varianten vertraut er Erzähltechniken, die den Fragmentcharakter von Erinnerung mehr oder weniger unterschlagen und die Unebenheiten des historischen Gedächtnisses verwischen. Anders ausgedrückt, gewährleistet gerade die Einebnung jeder Widersprüchlichkeit dem Kino Attraktivität: Durch Identifikation verliert sich auch die für die Erinnerung notwendige Distanz im Verhältnis zur Vergangenheit.[46]

Aus den geschilderten politischen Gründen konnte sich der DEFA-Spielfilm nur bis 1949 dezidiert mit der Umsiedlerproblematik beschäftigen. Zwei Kinoproduktionen behandelten die Thematik.

Der Film Freies Land (1946) zeigt das Chaos der ersten Nachkriegszeit, die endlosen Trecks von Flüchtlingen und die Skepsis der `Altbauern` vor den Flüchtlingen. Der Held Franz hat nach seiner Gefangenschaft und nach langem Umherirren endlich seine Familie wiedergefunden. Seine Frau ist nach ihrer Umsiedlung inzwischen Neubäuerin geworden. Der Film verzichtete auf eine durchgehende Spielhandlung und ähnelt einer Dokumentation, da zeitgenössische Originalbilder hinzumontiert wurden. Überzeichnete programmatische politische Appelle führten aber dazu, daß die Zuschauer den Film ablehnten. Er gelangte noch nicht einmal in die Kinos nach Ost-Berlin. Dieses DEFA-Frühwerk gibt somit in erster Linie einen Einblick in das Vermittlungskonzept des Flüchtlingsbildes durch die Besatzungsmacht und die politisch Verantwortlichen.[47]

Der erfolgreichere DEFA-Film Die Brücke von 1949 zeigt hingegen die Integrationsprobleme der Umsiedler plastisch auf, um sie dann in einer von der Politik gewünschten Weise zu lösen: Eine Gruppe von Umsiedlern kommt in ein Sammellager nahe einer unzerstörten Kleinstadt und stößt dabei nur auf Feindschaft. Erst ein schwerer Brand, für den zunächst die sich später als unschuldig erweisenden Übersiedler verantwortlich gemacht werden, schlägt eine Brücke zwischen den verfeindeten Gruppen, die erkennen, daß sie fortan zusammengehören.

Häufiger behandelt, wurde die Umsiedlerproblematik bis 1948/49 in den Wochenschauen. Von allen Wochenschaubeiträge mit sozialpolitischen Themen betrafen 1946 10, 1947 14, 1948 16 aber 1949 nur noch 7 % aller Beiträge Flüchtlingsbelange.[48] Die zunächst festzustellende Berichterstattung über alltägliche Probleme wich dabei schnell einer apodiktisch wirkenden Aufbaupropaganda, die den Zuschauer bevormundete. So bezog die Wochenschau Ende 1946 in einer Ausgabe Position zur Vertreibung der Sudetendeutschen. Vermutlich nahm sich die Wochenschau des diffizilen Themas an, um auf den enormen Aufklärungsbedarf in der Bevölkerung zu reagieren. Die Interpretation der Wochenschau fiel aber ideologisch eindeutig aus: Aufnahmen von einem vollgepackten Pferdewagen und einem ausgebrannten Wehrmachtstransporter am Wegesrand sind mit dem Kommentar versehen: „Ein riesengroßes Problem, vor das uns die Auswirkungen des Hitlerkrieges stellen; Hunderttausende Deutsche aus den Nachbarstaaten, die nach den Potsdamer Beschlüssen ihren Wohnsitz verlassen müssen“.[49]

Die Vertriebenen erscheinen in den Wochenschauen wie im DEFA-Spielfilm durchweg als folgsame, integrationsbereite Menschengruppe. Auch die Herkunft der Flüchtlinge bleibt im Regelfall unerwähnt. Statt dessen wird die pragmatische Selbsthilfe der Flüchtlingen ebenso betont wie ihre ökonomische Bedeutsamkeit als Arbeitskräftepotential für den `Aufbau des Sozialismus`. Die tatsächlich vorhandenen enormen sozialen Spannungen wurden hingegen in Wochenschau und Kino abgeschwächt und schließlich ab 1949 medial ignoriert.[50]

Auch der Dokumentarfilm konnte sich nicht mit der Vertreibungsthematik beschäftigen. 1972 drehte der DEFA-Regisseur Volker Koepp in `Grüße aus Sarmatien` ein Porträt des in Tilsit geborenen Dichters Johannes Bobrowski, der sich wie kein zweiter mit der geschichtlichen Landschaft um Tilsit, Ostpreußen und Litauen, aber nicht mit dem Vertreibungsvorgang selbst beschäftigt hatte.[51] Es gelang Koepp aber nicht einmal nach Tilsit und Kaliningrad (Königsberg) zu gelangen. Erst nach der Wende konnte er dann seinen vielgerühmten Film `Kalte Heimat` (1995) über das nördliche Ostpreußen drehen.[52]

Der kurze Durchgang durch die Formen der Vermittlung hat gezeigt, daß in der DDR nur in der Literatur eine offenere Beschäftigung mit dem Vertreibungsgeschehen begonnen hatte. Die vertiefende Analyse muß aber noch die Formen und Phasen der Tabuisierung und seine Agenten innerhalb der SED genauer herausarbeiten. Die Forschung steht hier gerade am Anfang.

 

Schlußbemerkung

Die Ostgebiete sind nach über fünfzig Jahren wohl tatsächlich in Gesamtdeutschland zu einer reinen Heimat im Kopf geworden. So ergab im Jahr 1990 eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts FORSA unter Vertriebenen und ihren Nachkommen, daß nur acht Prozent in die alte Heimat zurückkehren wollten, wenn es dazu die Möglichkeit gäbe.[53] Bis heute wird diese Zahl vermutlich noch weiter gesunken sein. Durch Flucht und Vertreibung wurden aber gleichsam `Gedächtnisorte` aus den Ostgebieten nach Westen getragen, in Bildern, Bräuchen und Inszenierungen im öffentlichen und privaten Raum gepflegt - unter ganz unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Für eine vergleichende Geschichtsschreibung ergeben sich hier aufregende Forschungsfelder. So wäre es zum Beispiel - wie Edgar Wolfrum vorschlug - sehr reizvoll, einen so exponierten `Gedächtnisort` wie Kants Königsberg zu erforschen.[54] In ihm werden die Dimensionen eines `Gedächtnisortes` im Sinne Pierre Noras beispielhaft deutlich: Die materielle Dimension des Orts, die in Raum und Zeit eingeschrieben ist, verbindet sich mit der symbolischen Dimension als eines Gedenkens an Vergangenes.[55] Eine solche Untersuchung wäre ein weiterer Baustein einer noch zu schreibenden, europäisch angelegten Geschichte der Gedächtnisorte der Vertreibung. Auch die heutigen, von Koepp im Film `Kalte Heimat` porträtierten Bewohner des nördlichen Ostpreußens hatten nämlich „alle irgendwelche Wanderungen hinter sich, Verschickung, Deportation“.[56] Vertreibung ist eine allgemeine mittel- und osteuropäische Erfahrung, die es weiter zu erforschen gilt. Die im Rahmen des Kollegs an der Viadrina begonnene Arbeit muß deshalb unbedingt fortgesetzt werden.

 

 

Nachbemerkung: Der vorangegangene Beitrag entstand während eines Fellowship an der Viadrina-Europa-Universität in Frankfurt/Oder. Von Herbst 1998 bis Juni 1999 forschte ich als Fellow des ersten Jahrgangs und Teil einer multinationalen Projektgruppe über „Ethnic Cleansing` in the Memory of Nations“ unter Leitung von Prof. Dr. Karl Schlögel. Die gemeinsame Arbeit von uns jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Polen, Litauen, Rumänien, der Ukraine, den USA und Deutschland war dabei nicht immer leicht, aber stets sehr ertragreich und instruktiv.

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[1] Meinicke, Wolfgang: Ein kurzer historischer Überblick. In: v. Plato, Alexander /ders.: Alte Heimat - neue Zeit. Flüchtlinge, Umgesiedelte, Vertriebene in der Sowjetischen Besatzungszone. Berlin 1991, 23-82 (27).

[2] Koselleck, Reinhart: Geschichte, Recht und Gerechtigkeit. In: Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages 1986, hg. v. D. Simon. Frankfurt/M. 1987, 129-52 (36).

[3] Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin-Neuwied 1966 (zuerst Paris 1925). H. gehörte zum ersten Herausgeberkreis der 1929 gegründeten Annales E.S.C. Gerade auf Marc Bloch machte die Studie von Halbwachs`großen Eindruck [Vgl. Bloch, Marc: Mémoire collective. In: Revue de Synthèse Historique 40 (1925), 73-83] Ebenso wie Bloch wurde aber auch H. ein Opfer des Krieges. Die Nazis deportierten ihn 1944 nach Buchenwald, wo er einige Monate später starb.

[4] Die Literatur zu `Gedächtnis` ist mittlerweile kaum mehr überschaubar. Siehe einführend zum Konzept des `Kollektiven Gedächtnisses` vor allem die Einleitung in: Assmann, Jan: Das Kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992 und als weiteren guten Überblick zur Genese und Entwicklung des Gedächtnis-Konzeptes in der Kulturwissenschaft: Niethammer, Lutz: Diesseits des „Floating Gap“. Das kollektive Gedächtnis und die Konstruktion von Identität im wissenschaftlichen Diskurs. In: Platt, K./Dabag, M.: Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Opladen 1995, 25-50. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive liegt jetzt mit der Habilitation von Aleida Assmann ein weiterer guter Zusammenschau vor: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des Kulturellen Gedächtnisses. München 1999. Kritisch muß insgesamt angemerkt werden, daß sich die Anwendung von Jan Assmanns anspruchsvollem Konzept des `Kulturellen Gedächtnis` teilweise auf ein deklamatorisches Lippenbekenntnis beschränkt. So analysiert Klaus Naumanns in seiner Studie [Der Krieg als Text. Das Jahr 1945 im kulturellen Gedächtnis der Presse. Hamburg 1998] ausdrücklich nur bundesdeutsche Zeitungsquellen des Jahres 1995. Damit soll die Selbstthematisierung einer Gesellschaft in ihrem Verhältnis zum Krieg anhand der Inszenierung von Gedenktagen ablesbar werden und so eine Bilanz der Erinnerungskultur der "Bonner Republik" gezogen werden. Zwar gelten Jahrestage wie Feste, Riten und Versammlungen nach Jan Assmann als „primäre Organisationsformen des kulturellen Gedächtnisses“ [Das Kulturelle Gedächtnis a.a.O., 56]. Dabei müßte aber die Inszenierung eines solchen Jahrestages in ihrer gesamten vielschichtigen Symbolhaftigkeit aufgeschlossen werden. Nur dann geht es tatsächlich um das `Kulturelle Gedächtnis` und die Erinnerungskultur einer Gesellschaft und nicht bloß um öffentliche Debatten in Zeitungen; m.E. bestehen für den Zusammenhang zwischem kollektiven und individuellen Gedächtnis noch eine Reihe von wichtigen, ungeklärten Fragen: Wie lagert sich Subjektivität in medialen bzw. kollektiven Gedächtnissen ab? Wie können durch individuelle Praxen wiederum gesellschaftliche Strukturen erzeugt werden? Immer noch anregend sind hier die zeitgenössischen Einwände des britischen Psychologen Barletts, der Halbwachs aus der Perspektive eines methodologischen Individualismus vorwarf, mit dem `kollektiven Gedächtnis` ein fiktives Gebilde zu erzeugen; Bartlett, Frederick C.: Remembering: A Study in Experimental and Social Psychology. Cambridge 1932.

[5] Siehe den Versuch einer Synthese: Requate, Jörg: Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse. In: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), 5-32.

[6] Hier kann es leicht zur Überschneidung mit den dokumentarischen Formen der Rekonstruktion kommen. So ist es insbesondere für die frühe Bundesrepublik schwierig, reine Dokumentation von wertender Dokumentationsliteratur zu scheiden.

[7] Im folgenden nach: Wille, Manfred: SED und `Umsiedler` - Vertriebenenpolitik der Einheitspartei im ersten Nachkriegsjahrzehnt. In: Geglückte Integration ? Spezifika und Vergleichbarkeiten der Vertriebenen-Eingliederung in der SBZ/DDR (hg. v. D. Hoffmann u. M. Schwartz). München 1999, 91-104.

[8] Ther, Philipp: Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945 bis 1950. In: Geglückte Integration ?, a.a.O., 137-61 (41).

[9] Schwartz, Michael: Vertreibung und Vergangenheitspolitik. Ein Versuch über geteilte deutsche Nachkriegsidentitäten. In: Deutschland-Archiv 30 (1997), 177-95.

[10] Ebd.

[11] Von den bis 2,7 Millionen `Republikflüchtigen` bis zum August 1961 waren 950.000 Vertriebene; Meinicke a.a.O. 97.

[12] Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Kreistag/Kreisrat Zittau 126.

[13] Bessel, Richard/Jessen, Ralph: Einführung. In: Dies. (Hg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR. Göttingen 1996, 7-24.

[14] Ebd.

[15] Raddatz, Carlies Maria: Kirchliche Bemühungen um Aufnahme und Integration der Vertriebenen im Konflikt zum Staat am Beispiel der Pommerschen Evangelischen Landeskirche. In: Wille, Manfred (Hg.): 50 Jahre Flucht und Vertreibung. Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Aufnahme und Integration der Vertriebenen in die Gesellschaften der Westzonen/Bundesrepublik und der SBZ/DDR, 214-23 (21f.).

[16] Nach der Wiedervereinigung ist wiederum eine deutliche Pommern-Identifizierung festzustellen, die aber laut neuesten soziologischen Studien auch mit einem erwachten, starken Antipolinismus einhergeht; nach: Ebd.

[17] v. Plato, Alexander: Lebensgeschichten. In: Ders./Meinicke, Wolfgang: Alte Heimat - neue Zeit. Flüchtlinge, Umgesiedelte, Vertriebene in der Sowjetischen Besatzungszone. Berlin 1991, 83-265.

[18] Meldung, Süddeutsche Zeitung v. 6. September 1995.

[19] Schmidt, Ute: „Drei- oder viermal im Leben neu anfangen zu müssen...“ Beobachtungen zur ländlichen Vertriebenenorganisation in mecklenburgischen „Bessarabier-Dörfern“. In: Geglückte Integration?, a.a.O., 291-321 (317).

[20] So besteht im sächsischen Aue eine rührige örtliche Initiative, in der Vertriebene ihre Erinnerungen zu Protokoll geben können. Ein wissenschaftlicher Zugang zu den Dokumenten ist über das eingebundene Kreisarchiv gewährleistet.

[21] Hoffmann, Dierk/Schwartz, Michael: Einleitung. In: Geglückte Integration?, a.a.O., 7-20 (9).

[22] Ebd., 9f.

[23] Immer noch lesenswert ist die in den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik entstandene Studie: Seraphim, Peter-Heinz: Die Heimatvertriebenen in der Sowjetzone. Berlin 1954. Seraphims Vita zeigt exemplarisch die `Vorgeschichte` der Vertreibung der Ostdeutschen: S. war schon vor dem Krieg `Spezialist` für Umsiedlung und Massenvertreibung und hatte im März 1938 vorgeschlagen, den „Bevölkerungsüberdruck“ in den polnischen und südosteuropäischen Städten durch „Beseitigung des jüdischen Bevölkerungselements“ abzubauen. Später war er an der Ausarbeitung von weitreichenden Vertreibungsplänen beteiligt. Nach: Aly, Götz/Heim, Susanne: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Frankfurt/M. 1993, 503, zu Seraphim auch ebd., 95-101 und 278-81.

[24] Wille, Manfred: Die Umsiedler-Problematik im Spiegel der SBZ-/DDR-Geschichtsschreibung. In: Sie hatten alles verloren. Flüchtlinge und Vertriebene in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (hg. v. M. Wille, J. Hoffmann und W. Meinicke). Wiesbaden 1993, 3-11 (3).

[25] So hieß es in der Magdeburger Dissertation von Regine Just von 1985 politisch folgerichtig: „Zum Zeitpunkt der Gründung der DDR waren bereits die entscheidenden Voraussetzungen für die vollständige Integration der auf ihrem Gebiet lebenden ca. 4,3 Millionen Umsiedler geschaffen und große Anstrengungen unternommen worden, um die Bezeichnung Umsiedler aus dem Sprachgebrauch und den Köpfen der Menschen zu verdrängen. Die ehemaligen Umsiedler wurden genauso wie die ”Einheimischen” zu Staatsbürgern des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden, der auch zu ihrem Werk und zu ihrer neuen Heimat wurde”; Just, Regine: Die Lösung der Umsiedlerfrage auf dem Gebiet der DDR, dargestellt am Beispiel des Landes Sachsen (1945-52). 2 Bde, PH Magdeburg 1985, Thesen der Dissertation, 15. Ähnlich: Kaltenborn, Steffi: Die Lösung des Umsiedlungsproblems auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik, dargestellt am Beispiel des Landes Thüringen (1945-1948). Diss. PH Mageburg 1989 (2 Bde.) und Krellenberg, Hans-Ulrich: Die Eingliederung der Umsiedler in das gesellschaftliche und politische Leben in Mecklenburg 1945-1949 (dargestellt an den Kreisen Parchim und Malchin). Diss. Rostock 1971.

[26] Siehe den Sammelband: Sie hatten alles verloren, a.a.O.

[27] Schraut, Sylvia/Grosser, Thomas (Hg.): Die Flüchtlingsfrage in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Mannheim 1996.

[28] Zur Fragestellung: Donth, Stefan u.a.: Aufnahme und Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen in Sachsen von 1945 bis 1952 - Vorstellung eines Forschungsprojekts. In: Geglückte Integration?, a.a.O., 347-64.

[29] So wird an der Berliner Außenstelle des Instituts für Zeitgeschichte die Flüchtlingsverwaltung in der SBZ erforscht, siehe zu ersten Ergebnissen: Schwartz, Michael: Apparate und Kurswechsel, Zur institutionellen und personellen Dynamik von Umsiedler-Politik in der SBZ/DDR 1945-1953. In: Geglückte Integration?, a.a.O. 105-36. Einen guten ersten Überblick über die heterogene Forschungslandschaft bietet der 1999 erschienene Konferenzband, der auch eine umfassende Bibliographie enthält: Geglückte Integration?, a.a.O.

[30] Besonders zu erwähnen ist daher die vergleichende Arbeit von Philipp Ther, der die Flüchtlingspolitik in der SBZ/DDR und in Polen analysierte: Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945-1956. Göttingen 1998.

[31] Boockmann, Hartmut: Historische, politische und kulturelle Traditionen der Herkunftsgebiete - Bemerkungen zur Einführung in den Forschungsgegenstand. In: Flüchtlinge und Vertriebene in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Bilanzierung der Forschung und Perspektiven für die zukünftige Forschungsarbeit (hg. v. R. Schulze, D. v. d. Brelie-Lewien u. H. Grebing). Hildesheim 1987, 81-8 (7f.).

[32] Grundlegend: Helbig, Louis-Ferdinand: Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Bellestristik. Wiesbaden 1988. Im folgenden werden exilierte Autoren nicht berücksichtigt. So enthält vor allem Uwe Johnsons `Jahrestage`-Zyklus mehrere eindrucksvolle Vertreibungskapitel. Verzichtet wird ebenso auf die Berücksichtigung von Romanen, die das Vertreibungserlebnis nur episodenhaft darstellen und auf die nähere Betrachtung lyrischer Zeugnisse.

[33] Helbig a.a.O..

[34] Seghers, Anna: Die Umsiedlerin. In: Geschichten aus der Geschichte der DDR 1949-1979 (hg. v. M. Behn). Darmstadt/Neuwied 1981, 29-34.

[35] Ebd., 29.

[36] Voelkner, Benno: Die Tage werden heller. Schwerin 1952.

[37] Braun, Matthias: Drama um eine Komödie. Das Ensemble von SED und Staatssicherheit, FDJ und Ministerium für Kultur gegen Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ im Oktober 1995. Berlin 1995.

[38] Schneider, Rolf: Die Reise nach Jaroslaw. Rostock 1974.

[39] Wolf, Christa: Kindheitsmuster. Berlin (O)/Weimar 1976. In ihrer Erzählung `Blickwechsel`, die dem Roman voranging, kam es zu aufschlußreichen Konfrontation der Flüchtenden mit KZ-Opfern. Diese Erzählung, die in Form eines autobiographischen Berichts gestaltet ist, wurde zur Keimzelle ihres Bewältigungsromans `Kindheitsmuster`. Die Kernfrage der befreiten Häftlinge an die Fliehenden lautet in `Blickwechsel`: Wo sie denn gewesen seien, da sie so erstaunt schauten, als sie die abgemagerten Häftlinge sahen; dies., Blickwechsel. In: Lesen ums Schreiben. Berlin (O) 1972, 31-48.

[40] Helbig, a.a.O, 87.

[41] Wolf, Kindheitsmuster, a.a.O. 326.

[42] Schulz-Semraus, Elizabeth: Suche nach Karalautschi. Report einer Kindheit. Halle 1984.

[43] Höntsch-Arendt, Ursula: Wir Flüchtlingskinder. Halle/Leipzig 1985.

[44] Der Roman verliert an Glaubhaftigkeit, als es im zweiten Teil um die Eingliederung geht, wo er zum typischen Heldenepos des Aufbaus wird.

[45] Ähnliches hatte es nur 1988 in einer Literaturzeitschrift gegeben. Auf gerade elf Seiten waren Interviews mit Flüchtlingen erschienen, die auch offene Worte über Mißhandlungen und Vergewaltigungen enthielten: Grimm, Thomas (Hg.): Umsiedler 45. In: Temperamente - Blätter für junge Literatur 3 (1988), 41-52.

[46] Klippel, Heike: Das „kinematographische“ Gedächtnis. In: Once upon a time...: Film und Gedächtnis (hg. v. E. Karpf u.a.). Marburg 1998, 39-56.

[47] Heimann, Thomas: Umsiedler im Spiegel von Wochenschau und Film in der Sowjetischen Besatzungszone bis 1949. In: Schraut/Grosser a.a.O, 377-93. Siehe auch das nützliche Hilfsmittel: Wochenschauen und Dokumentarfilme 1895-1950 im Bundesarchiv-Filmarchiv (neubearbeitet v. P. Bucher), mschr. Bundesarchiv Koblenz 1984. Das Werk kann über das Filmarchiv Berlin bezogen werden. Generell aber existieren keine weiteren sachbezogenen Findmittel zu Filmen im Bundesarchiv oder anderen Archiven. Jede vergleichende Filmanalyse wird dadurch nachhaltig erschwert.

[48] Heimann a.a.O., 381.

[49] Ebd., 384.

[50] Albrecht Lehmann hat in seinem Buch über die Flüchtlinge in der Bundesrepublik hingegen die großen Vorurteile der Alteinwohner gegenüber den Flüchtlingen plastisch herausgearbeitet. Religiöse Spannungen zwischen Altbevölkerung und Neuansiedlern verschärften die Situation meist noch weiter: Lehmann, Albrecht: Im Fremden ungewollt zuhause. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland 1945-1990. München 1991, 231ff. Daß die DDR kein spannungsfreies Flüchtlingsidyll war, belegen Forschungen nach der Wende. Die Flüchtlinge trafen in den Dörfern auf ein weitgehend geschlossenes Milieu mit einer gewachsenen, überwiegend protestantischen Konfessionsstruktur und wurden vielfach als Konkurrenten um knappe Ressourcen angesehen. Teilweise mußten sie gar zwangsweise von der sowjetischen Besatzungsmacht in den Dörfern angesiedelt werden. Siehe: Pape, Petra: Flüchtlinge und Vertriebene in der Provinz Mark Brandenburg. In: Sie hatten alles verloren a.a.O., 110-32.

[51] Bobrowskis Roman Levins Mühle beginnt sehr versöhnlich: „...Am Unterlauf der Weichsel, an einem ihrer kleinen Nebenflüsse, gab es in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein überwiegend von Deutschen bewohntes Dorf. Nun gut, das ist der erste Satz. Nun müßte man aber dazu setzen, daß es ein blühendes Dorf war mit großen Scheunen und festen Ställen und daß mancher Bauernhof dort, ich meine den eigentlichen Hof, den Platz zwischen Wohnhaus und Scheune, Kuhstall, Pferdestall und Keller und Speicher, so groß war, daß in anderen Gegenden ein halbes Dorf hätte darauf hätte stehen können. Und ich müßte sagen, die dicksten Bauern waren Deutsche, die Polen im Dorf waren ärmer, wenn auch gewiß nicht ganz so arm wie in den polnischen Holzdörfern, die um das große Dorf herum lagen. Aber das sage ich nicht. Ich sage statt dessen: Die Deutschen hießen Kaminski, Tomaschewski und Kossakowski und die Polen Lebrecht und Germann. Und so ist es nämlich auch gewesen....“; Bobrowski, Johannes: Levins Mühle, 34 Sätze über meinen Großvater, S. 9f. In: Ders.: Gesammelte Werke in 6 Bd., [hg. v. E. Haufe]. Berlin (O) 1987, Bd. 3, Die Romane, 7-224 (9f.).

[52] Koepp, Volker: Die Dinge des Lebens. In: Voss, Gabriele (Hg.): Dokumentarisch arbeiten. Berlin 1996, 102-29. Derzeit (Frühjahr 1999) ist Koepps neuester Film `Herr Zwilling und Frau Zuckermann` im Kino zu sehen, in dem er die beiden letzten, noch lebenden jüdischen Einwohner von Czernowitz einfühlsam porträtiert.

[53] Meldung, TAZ (Die Tageszeitung) Nr. 3055 v. 12.03.1990. Dabei herrschten 1990 über die Siedlungsverhältnisse um 1930 in den deutschen Ostgebieten bereits „abwegige Vorstellungen“ bei den Leuten vor, die um 1960 geboren waren. So wurde das damalige Breslau zu einer multikurellen Stadt, zum gemeinsamen Wohngebiet von Deutschen und Polen, wie Lehmann [a.a.O., 82f.] in seinen Forschungen feststellte.

[54] Wolfrum, Edgar: Zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtspolitik. Forschungen zu Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Archiv für Sozialgeschichte 36 (1996), 500-22 (22).

[55] Die sieben von Pierre Nora zwischen 1984 und 1992 in Paris herausgegebenen Sammelbände behandeln in 120 Aufsätzen französische `Gedächtnisorte` wie Versailles, Verdun oder den gallischen Hahn. Siehe die auf deutsch vorliegende Einführung zu Les lieux de mémoire von Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990.

[56] `Kalte Heimat`. Volker Koepp im Gespräch mit Erika Richter (25.1.1995). In: 25. Internationales Forum des jungen Films. Berlin 1995, Abschn. 2, o. S.